Anders
Denken & Handeln
In Lateinamerika lebten vor der spanischen Eroberung viele Völker. Sie hatten eine völlig andere Kosmovision als die Invasoren, deren Raubzug sich nicht nur auf die Bodenschätze wie Gold und Silber beschränkte, sondern auch auf eine „Gehirnwäsche“ der vermeintlich „Unzivilisierten“ abzielte. Obwohl es schon früh Stimmen gab, die den Genozid an Indigenen verurteilte und die „Andersartigkeit“ der indigenen Völker verteidigten (z.b. Fray Bartolomé de las Casas im berühmten Disput von Valladolid), änderten sie wenig an der de-facto-Unterwerfung der Indigenen. Aus Afrika verschleppte Arbeitssklaven brachten ebenfalls ganz eigene Sprachen, Religionen und Kulturen mit nach Lateinamerika. Die Sprachen der Eroberer jedoch, Spanisch und Portugiesisch, decken viele Erlebnisbereiche der Indigenen nicht ab. Bei den Pirahã im brasilianischen Amazonas beispielsweise zählt nur das Hier und Jetzt. Das schlägt sich auch in ihrer Sprache nieder: Ihre Grammatik kennt weder Konjunktiv noch Passiv.
All das überlagert sich im heutigen Lateinamerika. Der Anthropologe Wade Davis schuf dafür den Begriff der „Ethnosphäre“, um analog zur „Biosphäre“ diese facettenreichen kulturellen Lebensräume zu benennen. Der Begriff ist ein Appell, die dominante westliche Weltanschauung in Frage zu stellen, vorurteilsfrei mit anderen Weltanschauungen zu konfrontieren und daraus neue Erkenntnisse über das menschliche Zusammenleben zu finden. Bei der Ethnospähre geht es also um den gedanklichen Überbau unserer menschlichen Zivilisation.
Wir wollen ihn beleuchten, hinterfragen, seine Konfliktlinien aufzeigen und mit Beispielen erzählen, wo Menschen schon neue Konzepte umsetzen.
Einer, der dies nicht nur theoretisch und als Buchautor betreibt, sondern auch in der neuen Verfassung seines Heimatlandes Ecuador juristisch verankert hat,, ist Alberto Acosta. Er ist kein Ethnologe, sondern ein klassisch liberal ausgebildeter Ökonom. Unter ihm als Vorsitzender der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors (2007-2008) wurde zum ersten Mal das indigene Konzept des Buen Vivir, des Guten Lebens, in einer Verfassung verankert.
Doch wie kann man "gut Leben", also in Harmonie mit den Mitmenschen und der Umwelt? Das ist kein einfaches Thema, denn es bringt tiefgreifende politische und wirtschaftliche Veränderungen mit sich. Doch gerade Gewohnheiten zu ändern, die man für selbstverständlich ansieht, gehört zu den schwierigsten Dingen überhaupt. Wir haben ein Dorf in Ecuador besucht, wo eine mutige Bürgermeisterin es trotzdem in Angriff genommen hat.
Das Territorium ist für indigene Völker nicht einfach nur Wald, Wasser und ein Reservoir von Bodenschätzen. Es ist auch kein Projektsraum für „Wildnis“. Sondern es ist Teil ihrer Kosmovision und prägt ihr Denken, ihre Sprache, ihren Lebensstil.
Sie sind tief mit einer bestimmten Region verwurzelt. Wenn sie den Wald und ihren angestammten Lebensraum verlieren, ist ihre Lebensgrundlage zerstört.
Wie es ihnen gelingen kann, der Vernichtung Einhalt zu gebieten und ihr Land, die Ressourcen und ihre Kultur zu verteidigen, erzählt diese Geschichte aus Ecuador.
Der Kampf um Land ist der Kernkonflikt zwischen westlicher und indigener Zivilisation. Im Amazonas-Regenwald prallen diese Welten derzeit besonders hart aufeinander. Denn Amazonien ist eine der letzten Regionen, die noch nicht komplett dem kapitalistischen Wirtschaftssystem eingegliedert sind.
Doch der Druck wächst unaufhörlich. Treiber der Urwaldzerstörung sind das Gold, die Viehzucht und vor allem der Sojaanbau für den Export. Die Lobbyisten versuchen derzeit über Gesetzesvorhaben, den Schutz indigener Reservate aufzuweichen und sie für die wirtschaftliche Nutzung zu erschliessen.
Betroffene Indigene Völker demonstrierten im Sommer in Brasilia und im November 2021 in Argentinien.
Die brasilianischen Proteste richteten sich gegen drei Vorhaben, die ihre Territorien und Autonomie direkt bedrohen:
Eines ist der Gesetz-Entwurf PL490, der im März 2022 im Kongress verabschiedet wurde. Die Reservate werden zwar dadurch nicht aufgehoben, aber PL490 erlaubt den Bergbau in indigenen Territorien.
PL337 wurde neu im Mai 2022 im brasilianischen Unterhaus eingebracht, ist noch anhängig und hat das Ziel, den Bundesstaat Mato Grosso juristisch aus der Amazonasregion auszugliedern.
Das bedrohlichste Gesetz in Brasilien nennt sich „Marco Temporal". Es besagt, dass nur Indigene, die zum Zeitpunkt der Verabschiedung der brasilianischen Verfassung 1988 auch auf ihrem Stammesgebiet gelebt haben, dieses als indigenes Territorium beanspruchen dürfen. 2023 war ein Schicksalsjahr für Marco Temporal.
In Argentinien wiederum ist der Antrag auf Verlängerung des Gesetzes 26.160 über den indigenen territorialen Notstand unter der Regierung Milei wieder in Frage gestellt. Anders als der Name suggeriert war dieses Gesetz bislang eine wirksame Bremse für eine wirtschaftliche Erschliessung der indigenen Schutzgebiete.
Inzwischen wechseln viele Indigene zwischen beiden Welten, der westlichen und der indigenen, hin und her. Das ist nicht immer einfach. Auch sie erliegen manchmal den Verlockungen des Geldes. Besonders krass ist diese Verlockung beim illegalen Goldschürfen entlang der Amazonasflüsse.
Seit Jahrzehnten versuchen sie politisch wahrgenommen zu werden, organisieren sich weltweit.
Im Innern versuchen sie ihre nach strammen Regeln der Kosmovision organisierten Gemeinden so zu strukturieren, dass sie auch von aussen wahrgenommen werden. Beispielsweise sind indigene Influenzer vermehrt im Netz unterwegs.
Vermehrt werden Indigene ins Ausland eingeladen. Kay Sara zum Beispiel, indigene Schauspielerin des Volkes Tariano am Rio Negro in Amazonien, sollte die Festwochen 2020 in Wien eröffnen. Wegen der Pandemie konnte sie nicht anreisen. Ihre Eröffnungsrede hat sie dann auf youtube veröffentlicht:
https://www.bernerzeitung.ch/das-ist-ein-aufruf-zum-mord-485520316383
https://www.youtube.com/watch?v=toYUFTM5mHU
Enige versuchen auch, in die von Weissen dominierte Politik vorzustossen. Aber das ist nicht einfach, wie der Fall von Cacique Marcos der Xukurú zeigt.