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Schülerin gegen                       Cybermobbing

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Kaum Regelungen gegen Cybermobbing.

von Sandra Weiss

 

aus

Vom Gespött zum Gesetz: Wie das Opfer eines Sexvideos in Mexiko die Scham zum Triumph machte

Olimpia Coral war gerade erst 18 Jahre alt, als ein von ihrem Freund gedrehtes Sexvideo in ihrem stockkonservativen Ort in Mexiko die Runde machte. Sie wurde zum Gespött der Nachbarinnen und Nachbarn. Monatelang traute sie sich vor Scham nicht aus dem Haus, dreimal war sie kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Doch dann merkte sie, dass sie längst nicht das einzige Opfer von Cybermobbing war – und drehte den Spieß um und ging an die Öffentlichkeit.

Vor zwei Jahren trat landesweit ein Gesetz in Kraft, das ihren Namen trägt und die unerlaubte Verbreitung intimer Videos als digitalen Missbrauch qualifiziert und mit bis zu neun Jahren Haft bestraft. Für Mexikos Frauen war das sogenannte Gesetz Olimpia ein Meilenstein. Viele Frauenkollektive in Lateinamerika wie z.b. in Argentinien eifern dem Vorbild nun nach. Dort wurde 2023 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Ob es unter dem frauenfeindlichen Präsidenten Javier Milei auch umgesetzt wird, ist jedoch fraglich. Denn auf dem Subkontinent existieren laut einer Studie der UN-Frauenorganisation bislang kaum staatliche Präventionsprogramme oder Gesetze, die Cybermobbing und digitalen Missbrauch unter Strafe stellen. Über zwei Drittel aller Frauen in Mexiko sind Statistiken zufolge mindestens einmal im Leben Opfer von sexuellen Übergriffen oder Gewalt geworden – in der realen Welt oder im virtuellen Raum.

Der Kreuzweg begann für Olimpia im Jahr 2012. Ihr Freund, mit dem sie schon sechs Jahre zusammen war, filmte mit seinem Handy und ihrem Einverständnis den Geschlechtsverkehr. Olimpia war darauf nackt in Aktion zu sehen, ihren Freund hingegen erkannte man nicht. Einige Zeit später verbreitete sich das Video per whatsapp in Windeseile in ihrer Kleinstadt Huauchinango im Bundesstaat Puebla. „Die Leute fingen an, mit den Fingern auf mich zu zeigen, ich war das Flittchen und das sexy Dickerchen“, schildert die heute 27jährige in einem ausführlichen Interview mit der UNO. Sie versuchte, den Skandal vor ihrer Familie zu verbergen. „Doch dann platzte mein 14jähriger Bruder in ein Familienfest, warf sein Handy auf den Tisch und sagte, dass es wahr sei, was man sich im Dorf erzähle und ich auf dem Video zu sehen sei. Meine Mutter begann zu weinen. Da wäre ich am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Ich warf mich ihr zu Füßen und bat um Verzeihung,“ erzählt sie.

Kampf gegen eine Gesetzeslücke

Ihr Freund stritt ab, das Video weitergegeben zu haben, verließ sie aber. Ihre sozialen Netzwerke quollen über von anzüglichen Angeboten fremder Männer. Pornoseiten verbreiteten ihr Video, auch Lokalpolitiker versahen es mit einem „like“ in facebook, wie sie später herausfand. Die Lokalzeitung widmete ihr einen bebilderten Artikel auf der Titelseite, in dem es hieß, die Abiturientin sei nun fürs Leben gebrandmarkt. 

Ihre sozialen Netzwerke quollen über von anzüglichen Angeboten fremder Männer.

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Das sexy Dickerchen

Acht Monate verkroch sie sich in ihrem Zimmer. Wäre da nicht ihre Mutter gewesen – eine einfache, indigene Frau vom Land – wäre Olimpia wohl nicht mehr am Leben. „Meine Mutter nahm mich in den Arm und sagte, dass die ganze Welt Sex habe und daran nichts Verwerfliches sei“, erinnert sie sich. 

Da begann sie zu kämpfen. “Es war sehr schwierig, weil das alles im digitalen Raum passierte und das Video mit meinem Einverständnis gefilmt worden war“, schildert sie. Es begann ihr „zweiter Kreuzweg“. „Der Polizist, dem ich das Video bei der Anzeige zeigen musste, lachte nur dreckig und sagte, da ich ja offensichtlich nicht vergewaltigt worden sei, existiere auch keine Straftat.“

Leidende Frauen, verständnislose Politiker

Da entdeckte sie, dass sie längst nicht allein war. Vielen Frauen war es noch schlimmer ergangen als ihr.

Coral, inzwischen volljährig, ging an die Öffentlichkeit und suchte in Demos  Unterstützung bei Frauenorganisationen. 

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Ein Jahr nach dem Vorfall schrieb sie selbst einen Entwurf für ein neues Gesetz und brachte ihn bei einem Bürgerforum in ihrem Bundesstaat ein. Da entdeckte sie, dass sie längst nicht allein war. Vielen Frauen war es noch schlimmer ergangen als ihr. Manche waren von ihren Liebhabern gezwungen worden, nackt zu posieren, andere entdeckten im Internet ihre Nacktfotos, nachdem sie einen Freund verlassen hatten. In einer von prüder Sexualmoral geprägten Gesellschaft waren viele dieser Mädchen nach Bekanntwerden ähnlicher Videos von ihren Familien verstoßen worden. Ein Abgeordneter in Puebla erklärte Olimpia, er werde gegen das Gesetz stimmen, denn es fördere „Hurerei“. „Die meisten haben keine Ahnung, wie so ein Video dein Leben zerstören kann“, schildert Coral. 

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„Die meisten haben keine Ahnung, wie so ein Video dein Leben zerstören kann“

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Laut der Statistikbehörde Inegi wurden 2021 17,7 Millionen oder ein Fünftel der Mexikanerinnen und Mexikaner Opfer von Cybermobbing. Das neue Gesetz sanktioniert mit Geld- oder Gefängnisstrafen die Verletzung der sexuellen Intimität und die unerlaubte Verbreitung von Bildern und Videos mit pornografischem Inhalt.

Internationale Anerkennung, nationale Hürden

Corals Kampf hat sich ausgezahlt. Inzwischen gibt es Gesetze gegen digitalen Missbrauch in 27 der 32 Bundesstaaten und seit 2020 auch auf nationaler Ebene. Coral war die Cheflobbyistin dafür. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, ihre Heimatstadt ernannte sie im Dezember 2020 zur Ehrenbürgerin, das Time Magazine nahm sie in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2021 auf. Coral reist nun durch ganz Lateinamerika, um in anderen Ländern ihr Gesetz vorzustellen und die Menschen für Cybermobbing zu sensibilisieren.

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Doch daheim in Mexiko erweist sich die Umsetzung des Gesetzes als schwierig. Von Machismus geprägte Ermittlungsbehörden verschleppen die Fälle, Internet-Giganten rücken Daten nicht heraus und helfen nicht dabei, die Inhaber anonymer Konten zu entlarven. „Im schlimmsten Falle werden Opfer durch solch fehlerhafte Ermittlungen und machistische Behörden erneut traumatisiert“, kritisiert Coral. Seit Inkrafttreten des Gesetzes wurden in 64 Prozent der angezeigten Fälle Prozesse eröffnet, doch nur in fünf Prozent gab es Urteile – eines davon zugunsten eines Mannes, was heftige Kritik der Feministinnen auslöste. Auch das Ley Olimpia leidet damit unter dem dysfunktionalen Strafverfolgungssystem in Mexiko, das zu einer Straffreiheit von 97  Prozent aller Straftaten geführt hat.

Doch Coral gibt nicht auf und hat die Schwachstellen analysiert: Wir müssen nun in den Ausführungsgesetzen klar festlegen, wie die Beweisaufnahme zu laufen hat und welches Material die Staatsanwaltschaft für eine Prozessaufnahme benötigt“, sagt sie. Auch müsse das Opfer generell mehr berücksichtigt werden – auch vor Gericht. „Nicht jede Frau will, dass ihr Aggressor ins Gefängnis kommt“, hat sie festgestellt. Für manche sei dies eine Notwendigkeit, da sie Übergriffe und Racheaktionen fürchteten, für andere sei eine Wiedergutmachung wichtiger. „Unser Kampf ist noch lange nicht zu Ende“, sagt sie.

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