

Bedrohliche Gesetze:
in Brasilien & Argentinien
Brasilien 2021-22:
Vorlagen, die Indigene Territorien und Reservate gefährden
Mitte März 2022 wurde ein regionaler Koordinator der FUNAI (Nationale Indigene Schutzbehörde) verhaftet. Der Funktionär, der eigentlich indigene Territorien schützen sollte, hat Land des Volkes Xavante im Staat Mato Grosso an Grossgrundbesitzer als "Leasing-Projekt" vergeben. Das ist kein Einzelfall.
Freunde des rechtsgerichteten Präsidenten Bolsonaro (2019-2022), versuchen schon länger, gesetzlich geschützte Gebiete indigener Völker wirtschaftlich zu erschliessen oder an nationale und internationale Firmen zu verkaufen. Zu diesem Zwecke haben sie mehrere Gesetze ausgearbeitet, die ihr Vorgehen legalisieren sollen.
Gesetzesentwurf: "Marco Temporal"
"Marco Temporal" besagt, dass ein indigenes Volk nur dann einen Rechtsanspruch auf sein Stammesland hat, wenn es nachweisen kann, dass es am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der Verfassung, dort ansässig war. Diese Gesetzesänderung würde weit mehr als die Hälfte der brasilianischen Völker betreffen.
Damit würden viele, die schon vor diesem Datum vertrieben wurden, endgültig "enteignet" - zum Beispiel die Guaraní. Aber auch legalisierte indigene Territorien wie das der Xukuru, denen der Staat erst nach 1988 den Zuspruch gab, könnten je nach Auslegung betroffen sein.
Der Entwurf hat eine Vorgeschichte: 2009 reichte im südlichen Bundesstaat Santa Catarina die von Grossgrundbesitzern kontrollierte Regionalregierung eine Enteignungsklage ein, um auf dem indigenen Gebiets des Volkes der Xokleng einen Staudamm zu bauen und benachbarte Latifundien zu vergrössern. Die Xokleng kämpften sich -unterstützt von der Landpastorale - durch die Gerichte. Der Streit landete schliesslich beim Obersten Gerichtshof (SFT). Dessen mehrfach verschobene Entscheidung gilt als richtungsweisend, d.h. sie wird allgemeine Auswirkungen auf indigene Landansprüche in ganz Brasilien haben.
Die Interpretation des komplexen Gesetzentwurfes von Menschenrechtsexpertin Jessica Carvalho Morris:
Jessica Carvalho Morris
Rechtsanwältin
ist US-brasilianische Doppelbürgerin, Juristin, Wissenschaftlerin und Menschenrechtsanwältin. Sie war über 10 Jahre lang als Geschäftsführerin von gemeinnützigen Organisationen in den USA und in Brasilien tätig- auch für Amnesty International.
Derzeit promoviert sie im Bereich Menschenrechte am Zentrum für Sozialstudien der Universität Coimbra, Portugal.
https://www.opendemocracy.net/es/author/jessica-carvalho-morris/

Im Herbst 2021 wurde vom Obersten Gericht ein Urteil erwartet. Doch der Gerichtshof vertagte sich auf unbestimmte Zeit.
Jessica Carvalho Morris ist besorgt. Der momentane Vorsitzende des Obersten Gerichtshof, Edson Fachin, ist zwar auf Seite der Indigenen, aber Bolsonaro ernannte zwei seiner Anhänger in das höchste Richtergremium. Von den 11 Richtern, die vom Präsidenten ernannt und vom Senat bestätigt werden, gelten vier als konservativ, besonders die jüngeren Mitglieder. Einmal ernannt, können die Richter bis zum Alter von 75 Jahren im Amt bleiben.
Sende August 2021 demonstrierten über 6000 Indigene in der Hauptstadt Brasilia gegen das Vorhaben. Sie gerieten dabei teilweise mit Bolsonaro -Befürwortern und der Polizei aneinander. Wochenlang blieben ca. 800 Indigene in Zeltlagern, um den Druck zu erhöhen.

Weitere Gesetzesvorlagen
PL 337wurde im Mai 2022 im brasilianischen Unterhaus eingebracht. Das Gesetz hat das Ziel, den Bundesstaat Mato Grosso juristisch aus der Amazonasregion auszugliedern. Mato Grosso umfasst drei der wichtigsten brasilianischen Biome - den Amazonas, die Cerrado-Steppe und das Sumpfgebiet Pantanal. Bislang gehört er mit weiteren acht Bundesstaaten (Acre, Amapá, Amazonas, Pará, Rondônia, Roraima, Tocantins und Teile von Maranhão) zur Subregion Amazonien.
Damit verbunden sind steuerliche Vorteile, aber auch Umweltschutzauflagen. Zum Beispiel müssen landwirtschaftliche Betriebe auf ihren Flächen 80% Wald stehen lassen und können nur 20% abholzen. Die Agroindustrie argumentiert, dass dies nicht mehr ausreicht, um die wachsende Bevölkerung in Brasilien und auf der Welt zu ernähren. Resistenzen gegen Pestizide und dadurch ausgelaugte und verarmte Böden zusammen mit dem Klimawandel drücken auf die Ernteerträge und die Rentabilität der Sojabarone. Daher drängen sie auf die Erschliessung immer neuer Gebiete.

PL 490 zufolge können einzelne Bundesstaaten künftig erlauben, indigene Reservate für den Bergbau freizugeben. Betroffen sind zum Beispiel das Territorium des Munduruku-Stammes in Pará, wo Gold gefunden wurde. Bei den Mundurukú fackelten Goldgräber schon vor Inkrafttreten des Gesetzes Häuser von Indigenen ab; bei den Yanomami wurden Kanus mit Kinder gerammt und Dörfer beschossen. Auch die Bundespolizei geriet unter Beschuss der Goldgräber. In der Nähe von Itaipú am Tapajos wird bereits von einer Firma Gold abgebaut.
Im März 2022 nahm der Senat den von der Regierung eingebrachten Gesetzesentwurf PL490 mit 279 zu 180 Stimmen an. Er erlaubt Bergbau in indigenen Schutzgebieten. In Brasilia demonstrierten Umweltschützer, Indigene und Künstler gegen das Vorhaben.

PL 490 ebnet nicht nur Grossgrundbesitzern und Goldgräbern den Weg, sondern erlaubt auch evangelikalen Predigern den Zugang zu Schutzgebieten. Sie kontrollieren eine wichtige Fraktion im Kongress und unterstützen Bolsonaro.
Siehe National Geographic:
Nicht alle Indigenen stehen geschriebenen und un-geschreibenen Gesetzen kritisch gegenüber. Es gibt immer wieder Spaltungen innerhalb der Gemeinden, und manche der Indigenen erliegen den Verlockungen und dem Geld der westlichen Welt.

2023:
Im Repräsentantenhaus fordern indigene Führer aus ganz Brasilien
dringend "Marco Temporal" aufzulösen

Nach dem Regierungswechsel im Januar 2023 zu Luiz Inácio „Lula“ da Silva von der linken Arbeiterpartei hat sich der politische Wind zugunsten indigener und traditioneller Völker gedreht. Lula hat die Nationale Indigene Schutzbehörde (Funai) wieder mit Personal und Ressourcen ausgestattet und ein neues Ministerium für Indigene und traditionelle Völker gegründet. Der Kazike Marcos Xukuru wurde Sonderberater der Indigenenministerin Sonia Guajajara.
Der Präsident der traditionellen Völker Carlos Alberto Pinto dos Santos hat vorgeschlagen, die ca. hundert Meeres- und Landreservate ("RESEX") zu reorganisieren und den heutigen Bedürfnissen anzupassen.
Allgemeine, zeitgemässe Anpassungen sind auch bei Indigenen Territorien nötig, und ihre Vertreter können diesbezüglich nun direkt Einfluss nehmen auf das entsprechende Ministerium und indigene Abgeordnete.
So trafen sich etwa zweihundert indigene Führer von mehr als 20 Völkern aus ganz Brasilien Ende März 2023 mit der indigenen Abgeordneten Célia Xakriabá um die Abgrenzung ihrer Territorien und den Schutz der Rechte zu fordern, die durch die Bundesverfassung von 1988 gewährleistet sind.
In ihren Reden kam Besorgnis zum Ausdrück über den Schwebezustand durch das Nicht-Urteil des Obersten Gerichtshofes über den "Marco Temporal". Dadurch schwebt weiter ein Damoklessschwert über ihren Köpfen, und die Rechtsunsicherheit macht die Abgrenzung und Sicherung der indigenen Gebiete im ganzen Land schwierig. Eine schnelle Lösung ist kaum in Sicht, da gewichtige Interessen hinter dem „Marco Temporal“ stecken, die grossen Druck auf alle Institutionen ausüben.
Seit 50 Jahren unterstützt die katholische Organisation "Indigener Missionsrat-Cimi" die indigene Bevölkerung. (siehe)
Zum 50.Jubiläum hat "Cimi" 2023 eine Kampagne gestartet:
„Wir kommen aus einer sehr dunklen Nacht“, sagte der stellvertretende Sekretär Luis Ventura. „Wir müssen die nächsten vier Jahre nutzen, um voranzukommen. Aber es wird nicht einfach sein. Jetzt ist es an der Zeit, eine Taskforce zu schaffen. Die Macht der indigenen Völker war noch nie so gross wie heute. Wir brauchen eine Strategie.
Auch in den Nachbarländern ist das Selbstbewusstsein der Indigenen erwacht. So haben sich die Guaraní zum Beispiel länderübergreifend organisiert, um Gesetze zu blockieren, die ihre Rechte beschneiden. Ein solches Gesetz kam kürzlich in Argentinien auf den Tisch.
2021- 2022 Argentinien:
Gesetz "26.160"
Hier geht es um eine Verlängerung des bestehenden Gesetzes 26.160 über den indigenen territorialen Notstand. Das Gesetz wurde 2006 zum Schutz der indigenen Völker erlassen und verbietet Zwangsenteignungen oder Räumungen und Umsiedelungen, bis das indigene Land definitiv vermessen und ordnungsgemäss eingetragen ist. Der Senat hat den Antrag schon verabschiedet; die Zustimmung der Abgeordnetenkammer steht noch aus.
Vertreter verschiedener Völker wie Kolla, Mapuche, Ocloya, Huarpe, Mby'a-Guaraní, Tonokote Llutki, Guaraní, Tolombón Nación Diaguita, Diaguita Calchaquí, Tehuelche, Qom, Wichí, Pilagá und andere kampierten Mitte November 2021 vor dem Nationalkongress. Sie sind besorgt und fordern eine Verlängerung des Notstands und eine rasche, juristisch wirksame Vermessung ihrer Territorien.
Untenstehend ein Hilferuf aus mehreren Mby'a-Guaraní Gemeinden an die argentinischen Senatoren:
Gemeinde Alecrin, Guarani-Gebiet, 17. November 2021
Aguyjevéte
Wir grüßen Sie in unserer Muttersprache -Mby'a-Guaraní- unsere Ältesten, Behörden, die Politiker, die jungen Männer und Frauen unserer Gemeinden, die die traditionelle Organisation der „Aty Nechchirõ“ unseres Mby'a-Volkes bilden, das seit jeher in der heutigen Provinz Misiones lebte und sich in diesen Tagen in „Tekoa Alecrin“, in der Ortschaft San Pedro versammelt hat.
Mit gebührendem Respekt wenden wir uns als indigene Völker und als Bürger dieses Landes an Sie, um Sie aufzufordern, unverzüglich Ihre Verantwortung für die Sicherung unserer Zukunft wahrzunehmen, indem Sie mit "Ja" stimmen, um der Beibehaltung unserer Territorien Kontinuität zu verleihen und drohende Vertreibungen zu verhindern.
Ihr Beitrag als Vertreter des Volkes muss uns eine Zukunft des Friedens und der Achtung unserer Rechte garantieren.
Wir fordern erneut die DRINGENDE BEHANDLUNG DIESES GESETZES, die Senatoren haben es bereits getan, und wir erwarten von Ihnen dass sie die 50 % der fehlenden Mittel bereitstellen, um im ganzen Land die (mehr als die Hälfte) Gemeinden weiter zu entlasten, die noch nicht versorgt sind.
Erneut grüßen wir sie mit Aguyjevéte, während wir voller Hoffnung auf eine neue Verlängerung und die Umsetzung des Gesetzes 26160 warten.
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2023:
Gesetz "26.160" wurde in ein verwässertes Dekret umgewandelt
Jorgelina Duarte ist eine argentinische Vertreterin der Mby'a-Guaraní, die an obigem Papier mitgearbeitet hat. Sie fasste Anfang 2023 die Situation wie folgt zusammen: „Unsere Aktionen haben den Senat zwar zu einem Ja bewegt, aber im Abgeordnetenhaus, wo die Mehrheitsverhältnisse anders sind, hatten wir keine Chancen.“ Deshalb hat Präsident Alberto Fernández Anfangs 2023 das Gesetz in ein Dekret umgewandelt. Doch dieses bietet nur bis zum Ende seiner Amtszeit Schutz und kann von seinem Nachfolger oder Nachfolgerin jederzeit wieder aufgehoben werden.
Laut Jorgelina Duarte ist dieses neue Dekret deshalb blosse Augenwischerei. Zwar eine Anerkennung von Indigenen Traditionen, aber keine Garantie für ihre Territorien. Also fordern sie und ihre Mitstreiter ein komplett neues Gesetzt das anzestrales Land rechtmässig beglaubigt, damit sich indigene Gemeinden Spekulanten vom Leib halten können.
Wurde in ein Dekret umgewandelt